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Hauptamtliche Mitarbeiter der Stasi

 

 Erich Mielke

Das Ende einer Legende

Als die DDR unterging, versuchten Offiziere der HVA, möglichst alle Dokumente, Dateien und Akten spurlos verschwinden zu lassen. Sie wollten ihre Spione im Westen vor Enttarnung schützen. Doch bei der "Operation Reißwolf" unterliefen ihnen verhängnisvolle Fehler.

Am Abend des 3. Oktober 1990, dem Tag der Wiedervereinigung, saß Bernd Fischer vor dem Fernseher. Der Nachrichtensprecher meldete, Werner Großmann, der ehemalige Chef der DDR-Auslandsspionage, sei verhaftet worden, und Fischer ahnte, was ihm bevorstand.

Ein knappe Stunde später bekam er Besuch in seiner Wohnung in Berlin-Karlshorst. Der Erste Kriminalhauptkommissar Ostermann hatte zur Verstärkung 14 Beamte von Staatsschutz und Bundesgrenzschutz mitgebracht. Sie verhafteten Fischer wegen des Verdachts auf geheimdienstliche Agententätigkeit.

Der Oberst a. D. landete in einer Arrestzelle der West-Berliner Kriminalpolizei. Um sich die Zeit zu vertreiben, maß er die Zelle aus: knapp vier mal elf Schuhlängen, Größe 42.

Fischer wußte, daß sein ehemaliger Chef Großmann ebenfalls in einer der Zellen des düsteren wilhelminischen Baus saß. Er wußte auch, daß Markus Wolf, der langjährige Leiter der für die Auslandsspionage der DDR zuständigen Hauptverwaltung Aufklärung (HVA), sich gerade nach Moskau abgesetzt hatte.

Am Tag der Wiedervereinigung ließ die Bundesanwaltschaft nicht nur die ehemaligen HVA-Offiziere Fischer und Großmann verhaften, der West-Berliner Innensenat schickte auch etliche Polizisten zur Stasi-Zentrale in Berlin-Lichtenberg. Sie übernahmen dort das Kommando, bildeten mit ehemaligen DDR-Volkspolizisten gemischte Einheiten zum Schutz des vier Hektar großen Areals. Die Vopos hatten die DDR-Embleme von ihren Uniformen abgetrennt - der Arbeiter-und-Bauern-Staat war nach 40 Jahren, 11 Monaten und 26 Tagen verendet.

Die HVA hatte sich unter Markus Wolf zu einem Geheimdienst entwickelt, dem sogar die westliche Konkurrenz Respekt zollte. Besonders in England und den USA wurde "Mischa" Wolf - zuletzt im Rang eines Generaloberst und Stellvertreter Erich Mielkes - als "Man without face" zur Legende. Erst 1978 gelang es westlichen Aufklärern, den Sohn des Schriftstellers Friedrich Wolf und Bruder des Filmregisseurs Konrad Wolf in Stockholm heimlich zu fotografieren.

Die HVA verstand sich als Elite in Mielkes Schattenreich, ihr folgenreichster Coup war die Einschleusung Günther Guillaumes (Deckname "Hansen") in das Bonner Kanzleramt. Seine Entdeckung im April 1974 zog den Rücktritt Willy Brandts als Bundeskanzler nach sich.

Bernd Fischer versorgte zuletzt als Leiter der Abteilung I, "Aufklärung des Staatsapparates der BRD", seinen Minister Mielke und Erich Honecker mit Neuigkeiten aus den Bonner Ministerien. Als der Kalte Krieg mit der Implosion des realen Sozialismus endete, übernahm er am 1. April 1990 die Aufgabe, die HVA vollständig aufzulösen.

Das Ziel der Abwicklung war klar umrissen: Alle "Kundschafter an der unsichtbaren Front", die zum Teil über Jahrzehnte Geheimes beschafft und nach Ost-Berlin weitergeleitet hatten, sollten vor Enttarnung und Verurteilung bewahrt werden. Deshalb mußten sämtliche verräterischen Unterlagen vernichtet, die noch bestehende HVA-Truppe aufgelöst und gleichzeitig beieinandergehalten werden - denn in den turbulenten Monaten der Wende lockten westliche Geheimdienste Überläufer mit lukrativen Offerten. Eine Million "Deutschmark" bot die amerikanische CIA einem für sie besonders interessanten HVA-Offizier.

Um den erfolgreichen Geheimdienst möglichst spurlos verschwinden zu lassen, mußten Hunderttausende von Karteikarten und noch mehr Akten in die Reißwölfe geschoben, Dateien gelöscht und Datenträger vernichtet werden.

Nichts sollte in die Hände der gegnerischen Dienste fallen - ein letzter Triumph über den Klassenfeind, über seine Richter und Staatsanwälte, den BND und den Verfassungsschutz sollte es werden.

Dank des elitären Korpsgeists der HVA, den keiner so klangvoll beschworen hatte wie Markus Wolf, gab es tatsächlich relativ wenige Überläufer. Auch die Operation Reißwolf schien zunächst erfolgreich abgeschlossen worden zu sein.

Doch 1992 fanden sich in einem atombombensicheren Bunker bei Garzau, den die Bundeswehr von der Nationalen Volksarmee übernommen hatte, aufschlußreiche Datenträger aus dem Bestand der HVA. Dann stellte sich heraus, daß die CIA in den Besitz hochbrisanter Materialien gelangt war. Schließlich konnte jetzt auch die Gauck-Behörde noch ein auf Magnetbändern vergessenes Informationssystem decodieren.

Mit diesen ungewollten Hinterlassenschaften lassen sich neun Jahre nach dem Sturm der Bürgerbewegung auf die Stasi-Zentrale die Arbeitsweise der HVA rekonstruieren, der Aufbau ihres Apparats nachzeichnen und die Lieferungen ihrer Agenten nachvollziehen. Die legendäre Truppe von Markus Wolf ist entzaubert.

Kundschafter im Westen

Im Herbst 1989 verfügte die HVA über 4328 Planstellen, davon waren 4126 besetzt. Der Apparat war um rund ein Drittel kleiner als der des BND in Pullach bei München. Er umfaßte die Zentrale in Berlin-Lichtenberg, die Mitarbeiter in drei Stützpunkten in Berlin und im Umland sowie die HVA-Abteilungen XV in den insgesamt 15 Stasi-Bezirksverwaltungen der DDR.

Wie viele "Kundschafter" Ende der achtziger Jahre in der Bundesrepublik für die HVA arbeiteten, ist bis heute nicht endgültig geklärt. Wolf und Großmann gaben zu Protokoll, es seien 400 gewesen. Nach der ersten Auswertung der neu aufgetauchten HVA-Datenbank könnten es wesentlich mehr gewesen sein.

Ein Drittel von ihnen saß in der staatlichen Verwaltung sowie in Parteien und im Militär, zwei Drittel arbeiteten in der Wirtschaft, in der Wissenschaft, in Medien und Verbänden. Im Rest der Welt verfügte die HVA über weniger Kundschafter als im "Operationsgebiet" Bundesrepublik.

Nicht nur die HVA-Offiziere, sondern auch die meisten Kundschafter gaben sich bis zum Schluß überzeugt, für eine gute Sache zu arbeiten. Gleichwohl zettelten die Agenten bei konspirativen Treffen immer häufiger politische Diskussionen mit ihren Führungsoffizieren an. Warum die DDR nicht Gorbatschow und seiner Perestroika folge, fragten die Spione. "Sind Sie eigentlich bescheuert?" habe ihn ein Kundschafter angegangen, erzählt Fischer. "Sie sind Oberst, und Sie folgen den Befehlen Mielkes, eines 82jährigen Mannes? Das ist doch nicht normal."

Die HVA-Obristen waren Profis in ihrem Gewerbe, sie konnten sich vieles vorstellen, nur den Zusammenbruch des sozialistischen Lagers nicht. Für den Kriegsfall verfügten das Stasi-Ministerium und die HVA über Pläne, wie die Spionage von Ausweichquartieren aus fortzuführen sei. Die Agentenführer und die wichtigsten Akten sollten dorthin ausgelagert werden. Die HVA ließ sogar Aufmarschübungen für einen Atomkrieg durchführen, doch ein Fall war nicht eingeplant - daß die DDR ohne große äußere Feindeinwirkung einfach zusammenbrechen könnte.

Im Oktober 1989 jedoch erkannte die HVA-Führung den Ernst der Lage. "Wir hatten diese Massen von Papier", berichtet Großmann, der Wolf nach dessen Rücktritt 1986 nachfolgte. "Wir fragten uns, wie die ausgelagert werden sollten, falls sich die Lage zuspitzt." Nach einer Besprechung mit den Abteilungsleitern beschloß man "Ausdünnung".

Wie jede ordentliche deutsche Behörde hatte die HVA Unmengen Papier produziert: Arbeitspläne, Statistiken, Befehle oder Vorschriften, Parteiakten - eher für Historiker interessantes Material.

Spannend für feindliche Geheimdienste und westdeutsche Strafverfolger waren die Berichte und Arbeitsakten der Kundschafter. Diese Akten machten ein gutes Drittel des gigantischen Papierbergs aus, schätzungsweise 4000 Leitz-Ordner oder etwa 300 laufende Meter. Solche "aktiven Sachen" lagen in den Stahlschränken der Mitarbeiter, die Kundschafter führten, oder beim Referatsleiter.

Die HVA hatte drei Datensammlungen angelegt. Nur aus ihrer Kombination erschloß sich das gesamte Wissen über einen Agenten. Sie lagen im Referat 7, verantwortlich für Registrierung. Auf gelben Personenkarten der F-16-Kartei waren beispielsweise auch die Klarnamen von Kurieren und Quellen verzeichnet. Von diesen Karten wurden jeweils gekürzte Zusammenfassungen im zentralen Archiv des MfS eingelagert.

Im Oktober 1989 hatten die Mitarbeiter in den operativen HVA-Abteilungen damit begonnen, die Aktenberge zu verkleinern. Eile war geboten, in Frankfurt (Oder) belagerten Demonstranten schon im November die Bezirksverwaltung, in der auch eine HVA-Abteilung residierte.

Jetzt nahmen sich die HVA-Männer das eigene Archiv vor. Es war in der HVA-Zentrale untergebracht und existierte im Dezember 1989 nur noch in Gestalt von Papierstreifen.

Schwieriger war es mit dem Zentralarchiv im Hauptquartier des MfS, auf das die HVA keinen direkten Zugriff hatte. Schließlich bekamen Fischer und seine Leute von der Regierung unter Hans Modrow die Genehmigung, auch dort ihre Spuren zu beseitigen. Als das Jahr 1989 zu Ende ging, waren rund 500 000 Karteikarten aussortiert und zerhäckselt.

Die 20 Abteilungen der HVA verfügten zumeist über je fünf Reißwölfe, in der Regel automatische, in West-Berlin beschaffte japanische und amerikanische Modelle. Damit ließen sich Karteikarten und Akten schreddern. Zum Problem wurde das Verkollern - wenn die Papierstreifen zu Papiermehl vermahlen und mit Wasser zu einem Brei aufbereitet werden sollten.

Die Anlage stand im Keller und war vorsintflutlich. Alle paar Wochen mußte sie wieder repariert werden, weil sie nicht mehr funktionierte. In den Zimmern, Vorzimmern, in Fluren und Kellern häuften sich deshalb Säcke mit gehäckseltem Material an.

Für technische Geräte aus dem Arsenal der HVA hingegen fanden sich dankbare Abnehmer. Wertvolle Apparaturen aus der Funkzentrale in Gosen, aber auch Stempel, Blankodokumente oder Unterschriftenproben der Dokumentenabteilung - sie fälschte alles, was die Kundschafter benötigten - erhielt der sowjetische Bruderdienst. HVA- und MfS-Mitarbeiter deponierten dieses Erbe in versiegelten Räumen der KGB-Residentur in Berlin-Karlshorst. Die wertvollen Utensilien wurden in Container verladen und nach Moskau geflogen.

Akute Gefahr für die Aktion Selbstauflösung drohte erst, als am 15. Januar 1990 Aktivisten der Bürgerbewegung zum Sturm auf das weitläufige MfS-Gelände an der Normannenstraße aufriefen. Von der HVA hielten sich etwa 120 Leute dort in ihren Gebäuden auf. Großmann und die amtierende Leitung der HVA setzten sich in eine nahe gelegene "Konspirative Wohnung" ab. Die Untergebenen wurden mit der Weisung zurückgelassen, sich den Demonstranten, falls die in die Diensträume der HVA eindringen sollten, als Menschenblock entgegenzustellen und passiven Widerstand zu leisten.

Die HVA war zu diesem Zeitpunkt schon entwaffnet. Zwar hatte Mielke am 8. Oktober 1989 den Befehl ausgegeben, "die Waffe ständig am Mann führen" - zusammen mit ihrem Wachregiment Feliks Dzierzynski standen der Stasi insgesamt 124 593 Pistolen und Revolver nebst 76 592 Maschinenpistolen zur Verfügung. Doch Mitte Dezember waren die MfS-Leute auf Anordnung der Regierung unter Hans Modrow aufgefordert worden, sämtliche Schußwaffen abzuliefern.

Die HVA-Offiziere in der Ruschestraße rechneten mit einer gezielten Invasion der geheimdienstlichen Heiligtümer wie den Aktendepots und der Kommunikationszentrale. Die Masse der Demonstranten jedoch stürmte durch das Tor geradewegs auf ein Gebäude zu, in dem die Kantine untergebracht war, und eine Kaufhalle, in der auch knappe Artikel angeboten wurden, die im Politbüro-Reservat Wandlitz keinen Abnehmer gefunden hatten. Ein kleinerer Trupp, wohl weniger Ost-Bürgerrechtler als West-Agenten, drang von dort aus in das Gebäude der Spionageabwehr ein und brach gezielt die Stahlschränke auf. Ein Mitarbeiter der MfS-Spionageabwehr war Ende 1989 übergelaufen und hatte den BND instruiert.

Für das HVA-Gebäude rechts vom Eingang in der Ruschestraße interessierte sich niemand. Erst in der Nacht versuchten ein paar Demonstranten über den Keller aus dem Nebengebäude durch eine unverschlossene Brandschutztür vorzustoßen. Auf der Videoanlage sah der Offizier vom Dienst die Eindringlinge rechtzeitig und forderte Hilfe an. Die Demonstranten wurden von der Volkspolizei festgenommen.

Mit dem Tag der Erstürmung der MfS-Zentrale verschlechterten sich die Arbeitsbedingungen der HVA-Auflöser. Ein Bürgerkomitee hatte sich formiert, das alle Stasi-Mitarbeiter am Eingang filzte.

Das Bürgerkomitee Normannenstraße umfaßte anfangs rund 100 Mitglieder, eine bunte Mischung aus Studenten, Künstlern und Dissidenten aller Art, deren politisches Spektrum von Anarchisten bis zu Rechten reichte - inklusive mehrerer Inoffizieller Mitarbeiter (IM) der Stasi. Die HVA-Auflöser mußten sich fortan - wollten sie ihre letzte Mission erfolgreich abschließen - mit ihnen arrangieren.

Aber das war erstaunlich einfach. Denn daß auch demokratische Staaten Auslandsspionage betreiben, leuchtete der bunten Truppe ein, die sich nie zuvor mit Geheimdiensten beschäftigt hatte.

"Hier sind Menschen zu schützen", argumentierten die HVA-Männer und erklärten den Bürgerrechtlern, daß es Zeit brauche, alle Kundschafter abzuschalten. Wenn das nicht ordentlich über die Bühne gehe, seien diplomatische Verwicklungen unvermeidlich. Tatsächlich saßen zu diesem Zeitpunkt in England, den USA, der Schweiz und der Türkei HVA-Agenten im Gefängnis.

"Wir hatten es nicht mit plumpen DDR-Spießern zu tun", beschreibt David Gill, damals Koordinator des Bürgerkomitees, seine Verhandlungspartner. Es seien vielmehr gebildete und umgängliche Menschen gewesen, denen er Verständnis gezollt habe: "Die brauchten uns gar nicht groß zu bearbeiten."

"Wir waren wütend auf die Aktivitäten der Stasi gegen das Volk", sagt Joachim Gauck, seit Oktober 1990 Bundesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen. "Was sie im Ausland trieben, hat uns nicht so interessiert." Für den Pfarrer, damals beim Neuen Forum in Rostock aktiv, war die Stasi nur ein Herrschaftsinstrument im Dienst der SED. "Es ist verwunderlich", so Gauck, "daß wir überhaupt so viel Energie aufbrachten, die Akten zu sichern."

Den Bürgerrechtlern ging es vor allem darum, Mielkes Stasi-Apparat, der für die Repression im Innern der DDR verantwortlich war, zu zerschlagen. Nachdem der Zentrale Runde Tisch in Berlin, an den alle Parteien und gesellschaftlichen Gruppen Vertreter entsandten, das beschlossen hatte, gaben sie sich zufrieden.

Agenten und Doppelagenten

In den wirren Tagen nach dem Sturm auf die Stasi-Zentrale war der HVA-Führung zunächst entgangen, daß einer der Ihren spurlos verschwunden war: Oberst Heinz Busch, Militärexperte und erster Absolvent des MfS an der Moskauer Militärakademie. Der ehrgeizige Oberst war auf Parteiveranstaltungen als glänzender Agitator aufgefallen; er kannte, da er in der Auswertung der Spionage-Erkenntnisse arbeitete, keine Kundschafter im Westen. Werner Großmann hatte ihn deshalb Ende Dezember zum Beauftragten der HVA am Zentralen Runden Tisch ernannt.

Einen Tag vor der Sitzung am 15. Januar 1990 besaß Busch noch keine Instruktionen von seinen Oberen für die heikle Mission. Er fuhr - es war ein Sonntag - in die HVA-Zentrale in der Ruschestraße und traf dort auf Ralf-Peter Devaux, einen der Stellvertreter Großmanns. Busch bat Devaux um Unterlagen, um eine Gesprächsrichtlinie und um Vollmacht.

Während Devaux das Gespräch als "sehr freundschaftlich" erinnert, berichtet Busch von einem heftigen Streit. Devaux habe ihm damit gedroht, daß die Bürgerrechtler seine Verhaftung fordern könnten, und er, Busch, habe deshalb um sein Leben gefürchtet. Nach Beratung mit seinen erwachsenen Kindern beschloß Busch, "sich unter den Schutz der Sicherheitsbehörden der BRD" zu begeben.

Da an der Grenze zwischen Ost- und West-Berlin nach wie vor kontrolliert wurde, ging er durch eine Agentenschleuse nach West-Berlin. "Da müssen Sie später wiederkommen", beschied ihn um fünf Uhr morgens der Pförtner am Sitz des Innensenators, als er nach einem Vertreter des Verfassungsschutzes verlangte.

Erst nach mehreren Stunden erschien schließlich der Chef des West-Berliner Verfassungsschutzes. Er erklärte Busch, daß er eigentlich die westlichen Alliierten informieren müsse, unterließ es aber dann doch. Ein paar Stunden später saß Oberst Busch in einem Pan-Am-Jet nach München, wo ihn Mitarbeiter des BND in Empfang nahmen.

Busch wurde beinahe täglich von wechselnden Beamten befragt. "Das Mißtrauen der BND-Leute war ziemlich groß", meint er heute, "aber auf die Dauer wurde die Atmosphäre sehr kameradschaftlich." Busch erarbeitete Studien über die Militärstrategie des Warschauer Paktes, stand der Bundesanwaltschaft, aber auch Beamten aus dem Kanzleramt und dem Auswärtigen Amt Rede und Antwort.

Was er nicht wußte: Beim BND saß mit der stellvertretenden Leiterin des Referats Auswertung Sowjetunion, Gabriele Gast, einer der wichtigsten Maulwürfe der HVA. Sie bekam Wind davon, daß ein hochrangiger Überläufer angekommen war, und informierte ihren Führungsoffizier in Ost-Berlin davon.

Busch wechselte aus Sicherheitsgründen mehrmals im Großraum München das Quartier. Als er einen Ausflug auf die Zugspitze unternahm, waren die Russen hinter ihm her. "Die fotografierten mich derart dämlich", so Busch, "typisch KGB."

Gelohnt hat sich die Liaison mit dem BND nicht. Busch wollte gern als Militärhistoriker arbeiten, aber seine Verbindungsleute vom BND speisten ihn mit kleinen Arbeiten ab. Im April 1993 kehrte er enttäuscht nach Ost-Berlin zurück. Heute bekommt er eine wegen "Staatsnähe" reduzierte Rente. Als er zufällig seinen alten Chef Wolf auf der Straße im Ostteil Berlins getroffen habe, "schaute der durch mich durch wie durch Glas".

Zerhäckseln und verkollern

Die Auflösung des MfS inklusive der HVA war von der letzten DDR-Regierung unter Modrow am 8. Februar 1990 angeordnet worden - exakt am 40. Jahrestag der Gründung des MfS. Die HVA-Spitze traf sich in einem von den Bürgerrechtlern noch nicht entdeckten konspirativen Objekt in Berlin-Treptow. Nach der Beratung füllten die Obristen ihre Sektgläser. Sie stießen darauf an, daß die Operation Reißwolf erfolgreich abgeschlossen werden möge.

Das von der Regierung Modrow eingesetzte staatliche Komitee hatte festgelegt, daß die HVA bis spätestens zum 30. Juni 1990 vollständig aufgelöst sein müsse. Um das sicherzustellen, durften die Obristen in eine Außenstelle des MfS in der Roedernstraße in Berlin-Hohenschönhausen umziehen.

Der Hauptteil der personenbezogenen Akten und Karteien war schon durch den Reißwolf gelaufen. Um aber ganz auf Nummer Sicher zu gehen, nahmen die HVA-Auflöser auch dieses zerhäckselte Material in ihr neues Domizil mit.

Probleme verursachte ein mehrere Meter breites Stahlgestell, in das die Stahlbehälter mit den Sicherheitsverfilmungen der Karteien aus dem MfS-Zentralarchiv eingelassen waren. Die HVA hatte sie im November 1989 in ihrem Keller zwischengelagert, mittlerweile waren sie versiegelt.

Ein Kran der Nationalen Volksarmee versuchte den Koloß zu bewegen; doch die NVA-Maschine brach zusammen. Die Reichsbahn, die das Gebäude beziehen wollte, leistete Amtshilfe. Ihr Kran schaffte es.

Der Umzug stand unter kirchlichem Schutz. Der Lichtenberger Superintendent Joachim Rißmann, Bischof Gottfried Forck und Oberkonsistorialrat Ulrich Schröter vermittelten zwischen Bürgerrechtlern und Obristen, schließlich begleiteten Pfarrer die Aktentransporte. Mehrere Aktenbündel flogen in einer Kurve vom Laster. Brave DDR-Bürger gaben die Fundstücke bei der Volkspolizei ab.

Als die rechte "Allianz für Deutschland" am 18. März 1990 überraschend deutlich die vorgezogenen Wahlen zur Volkskammer gewann, gerieten die HVA-Auflöser in Hektik. Noch war die komplette Sicherheitsverfilmung der drei Karteien, mit deren Hilfe sich alle IM des MfS enttarnen ließen, nicht vernichtet. Noch lagen in Hohenschönhausen Berge von Karteikarten. Ein rechter Innenminister, befürchteten die HVA-Auflöser, könnte die Polizei losschicken und das explosive Material beschlagnahmen.

Alsbald wateten die HVA-Offiziere, vom Leutnant bis zum Oberst, in Gummistiefeln in einem Meer aus gelben Papierstreifen, die sie mit Wasser aus Eimern und Schläuchen aufgeweicht hatten. Die Pampe wurde zu Verbrennungsanlagen transportiert; eine davon stand passenderweise in der Wandlitzer Gärtnerei, die kurz zuvor noch die Grünanlagen in der Hochsicherheitssiedlung für Honecker, Mielke und die anderen SED-Größen gepflegt hatte.

In der Schlußphase der Spurenvernichtung wurden die Reißwölfe knapp. Von den rund 100 Häckslern arbeiteten noch 50. "Wir haben die mächtig totgefahren", erinnert sich HVA-Abwickler Fischer. "Sie sind einer nach dem anderen heißgelaufen, und wir hatten natürlich keine Ersatzteile." Bei der Abschlußinventur war ein einziger Reißwolf noch intakt.

Als Peter-Michael Diestel zum letzten Innenminister der DDR ernannt wurde, war die Operation Reißwolf so gut wie abgeschlossen. Diestel wehrte sich später in mehreren Prozessen erfolgreich gegen den Vorwurf, er habe die Vernichtung der HVA-Akten angeordnet. Bernd Fischer meint dazu: "Als Diestel rankam, war schon alles weg." Diestel und Fischer blieben sich allerdings verbunden. Fischer arbeitete später mehrere Jahre als Büroleiter in Diestels Anwaltskanzlei.

Am 11. April 1990 setzten die HVA-Auflöser zusammen mit einem Vertreter des Bürgerkomitees ein Protokoll auf. "Die Vorvernichtung und Verbrennung des o. g. Materials", heißt es darin, "erfolgte unter ständiger Kontrolle des Bürgerkomitees Normannenstraße."

Am 21. Juni 1990 lieferte die HVA in Auflösung insgesamt 40 Meter Aktenordner beim staatlichen Komitee für die Auflösung der Stasi ab, darunter 123 Ordner über westliche Geheimdienste und 262 Ordner über "politisch-militärische Aufklärung", zum Beispiel von US-Einrichtungen. "Da wollten sie den BRD-Kollegen mal zeigen, was sie alles über sie wußten", meint David Gill, der erste Pressesprecher der Gauck-Behörde.

Wie viele von den 40 Metern in den Giftschränken im ehemaligen Zentralarchiv des MfS noch zu finden sind, weiß niemand. "Dieser Bestand wurde inzwischen mehrfach bearbeitet", meint Johann Legner, heute Sprecher der Gauck-Behörde. "Er ist nicht mehr vollständig, aber wohl nicht systematisch geplündert worden."

Immerhin existiert noch eine von der HVA erstellte Mitarbeiterkartei des BND mit Fotos, Daten zur Person und deren Hobbys. "Davon", so Legner, "träumt jeder Geheimdienst."

Ein Teil der Akten über amerikanische Militäreinrichtungen wurde inzwischen über das Bundesinnenministerium an die US-Regierung geleitet. Manches liegt noch bei den Karlsruher Strafverfolgungsbehörden, anderes beim BND und beim Bundesamt für Verfassungsschutz: "Der Rücklauf aus Köln und Pullach", beklagt sich Behördenchef Gauck, "war schleppend und unvollständig."

Die Jagd nach Überläufern

Die westdeutschen Dienste nutzten die Chancen, die sich durch die Auflösung ihres Feindes Nummer eins boten, verblüffend zögerlich. Erst vom März 1990 an fuhren Mitarbeiter des Verfassungsschutzes und des BND in die DDR, um HVA-Kader anzuwerben.

Ein besonders interessanter Kandidat war beispielsweise Jürgen Rogalla, der schon am Anfang seiner HVA-Karriere einmal ein seriöses Angebot bekommen hatte.

1966 saß der 33jährige Major nach einem Putsch in Ghana in einem Hochsicherheitsgefängnis. Als "Herr Krüger" legendiert, hatte er den Geheimdienst des ghanaischen Präsidenten Kwame Nkrumah ausgebildet; die Putschisten verhafteten ihn. In eine Priestersoutane gewandet, tauchte eines Tages ein Emissär des BND in seiner Zelle auf. Man werde ihn nicht nur rausholen, habe der falsche Pfaffe versprochen, falls Rogalla auspacke, sondern seine Dienste auch mit einer Million Westmark belohnen. Der Häftling lehnte ab und kam nach massivem diplomatischem Druck der DDR frei.

Im März 1990 klingelt es an Rogallas Wohnungstür in Berlin-Mitte. Rogalla ist inzwischen Oberst und leitet seit über 20 Jahren die Abteilung XI der HVA, zuständig für die USA und US-Einrichtungen in West-Berlin und Westdeutschland.

Ein Fremder mit starkem Akzent, so Rogolla, habe sich ihm als Abgesandter der CIA vorgestellt und ihn zu einem Treffen in einem Restaurant in West-Berlin eingeladen. "Warum versuchen Sie ständig, meine Leute abzuwerben?" habe er ihn angeherrscht, sagt Rogalla. "Jetzt bin ich doch bei Ihnen", habe der CIA-Mann geantwortet. "Wären Sie nicht daran interessiert, mit uns zusammenzuarbeiten?" habe er gefragt. "Ihr Staat ist doch am Ende."

Rogalla schlägt dem CIA-Emissär vor, sich erst einmal ordentlich zu legitimieren. Ein paar Tage später taucht der Amerikaner mit einem Brief von CIA-Chef William Webster auf. "Obwohl Ihre Bitte um ein förmliches, schriftliches Angebot unüblich ist", schreibt der, "komme ich ihr wegen der großen Bedeutung, die Sie für uns haben, nach." Sein Vertreter sei autorisiert, ihm "one million West German Deutsch marks" anzubieten. Dafür solle Rogalla die Identitäten aller "Penetrationen" der HVA in der US-Regierung, den Nachrichtendiensten und der Army offenbaren.

Dazu boten ihm die Amerikaner an, ihn bei der Lösung möglicher "legal problems" mit der westdeutschen Regierung und bei einem Umzug samt Familie in den Westen zu unterstützen.

Wenn er einverstanden sei, habe ihm der CIA-Abgesandte erläutert, könne er sofort mit einer amerikanischen Maschine von Berlin-Tempelhof nach Washington ausgeflogen werden. Rogalla erbittet sich Bedenkzeit.

Beim dritten Treffen sitzt der letzte HVA-Chef Großmann bei Rogalla auf der Couch. "Da bekam der Amerikaner", erzählt Rogalla, "wahnsinnige Angst und wollte gleich wieder auf dem Absatz umkehren." Immerhin existierte die DDR noch, samt einer Staatsanwaltschaft, die über Jahrzehnte ausländische Spione verfolgt hatte.

Die CIA war nicht der einzige Nachrichtendienst, der sich für Rogalla interessierte. Ein BND-Emissär habe ihm eine Stelle in Paris angeboten, ein Agent des französischen Geheimdienstes habe vorgefühlt, auch mehrere sozialistische Bruderdienste. Rogalla, ein überzeugter Kommunist, zog es angeblich vor zu schweigen. "Ich könnte nicht bis zum heutigen Tage leben", sagt der promovierte Jurist, "wenn ich einen einzigen verraten hätte."

Vergebens klagte er beim Bundessozialgericht gegen seine "Strafrente" von 1100 Mark monatlich. Inzwischen habe er sich eine neue Wohnung suchen müssen, da er die Miete für die alte nicht mehr habe zahlen können.

Wie Rogalla weigerten sich viele HVAler, mit dem Bundesamt für Verfassungsschutz zusammenzuarbeiten. Andere wie Werner Roitzsch, seit 1956 bei der HVA, liefen über. Der hatte wichtige Quellen geführt, etwa die beiden Vortragenden Legationsräte im Auswärtigen Amt Klaus von Raussendorf (Deckname "Brede") und Hagen Blau ("Merten") oder den Polizeidirektor beim Bundesgrenzschutz, Alexander Dahms ("Daemon").

Seit 1983 war Roitzsch mit der Herstellung von Dokumenten für Kundschafter befaßt. Als sein Chef ihn Anfang 1990 fragte, ob er nicht eine Zeitlang nach Moskau gehen wolle, um die Genossen vom KGB im Fälschen westdeutscher Papiere zu schulen, habe er sich gedacht: "Das ist eine Reise ohne Rückfahrkarte."

Anstatt nach Moskau fuhr Roitzsch nach West-Berlin und nahm Kontakt zum Verfassungsschutz auf. Der übergab ihn an den Experten des Kölner Bundesamtes.

Alles schien gut. Roitzsch erhielt von einem Kölner Emissär eine Einladung zum Essen. Doch kurz darauf, im April 1990, meldete die Quelle "Stern" ihrem Führungsoffizier bei der HVA in Ost-Berlin, daß ein gewisser Dr. Werner Roitzsch bei ihm vorstellig geworden sei und wohl auspacken werde.

"Stern" zählte zu den wichtigsten Maulwürfen der HVA im Westen. Sein Klarname war Klaus Kuron, er war beim Bundesamt für Verfassungsschutz in Köln für Doppelagenten zuständig - und selbst zum Doppelagenten geworden.

Kuron hatte sich im Sommer 1981 schriftlich über die Ständige Vertretung der DDR in Bonn bei der HVA beworben. Er brauche den Zusatzverdienst, so rechtfertigte er sein Ansinnen, um seinen vier Kindern eine gediegene Ausbildung zu ermöglichen, die er mit seinem Gehalt als Referatsleiter in Köln nicht finanzieren könne. Die Wolf-Truppe entlohnte ihn mit einer einmaligen Zahlung von 150 000 D-Mark plus 4000 monatlich.

Fast alle HVA-Quellen wurden bis zum 31. März 1990 abgeschaltet, aber "Stern"-Kuron war für die Auflöser so wichtig, daß er weiterarbeitete. Der Verfassungsschützer traf sich weiterhin mit seinem Führungsoffizier und rief ihn auch in Notfällen an. Und er traf mehrmals Roitzsch.

Großmann war deshalb wenig überrascht, als Roitzsch ihn in einem Brief vom 4. Mai 1990 um eine Aussprache bat. Da war dem potentiellen Überläufer schon der Dienstausweis abgenommen worden.

Großmann und Roitzsch trafen sich in einem noch nicht entdeckten "Konspirativen Objekt". Großmann war schon seit einem Monat offiziell Pensionär. "Ich habe versucht, ihn dazu zu bringen, sich zu offenbaren", erzählt Großmann, "und schließlich räumte er auch ein, mit dem Verfassungsschutz in Kontakt zu stehen."

Ein halbes Jahr vorher hätte Großmann einen Mann wie Roitzsch sofort als Verräter verhaften lassen, jetzt hatte er keine Macht mehr. Großmann sprach mit Innenminister Diestel. "Daß ihr ihn rausgeschmissen habt, war richtig", habe der letzte Innenminister der DDR gesagt. "Aber strafrechtlich sollten wir nicht gegen ihn vorgehen."

"Stern" alias Kuron bekam dank seiner strategisch unübertrefflichen Position sogar mit, als ein HVA-Mann ihn ans Messer lieferte. Er fuhr sofort nach Berlin und erklärte seinem Führungsoffizier: "Ich habe eine Pistole dabei und lege diesen Verräter um." Er traf sich in Karlshorst mit KGB-Offizieren, um die Möglichkeit einer Flucht nach Moskau zu sondieren. Wegen seiner Familie nahm er davon Abstand.

Kuron fuhr zurück Richtung Köln, rief von unterwegs den Verfassungsschutz an und offenbarte sich als Doppelagent. Das Oberlandesgericht Düsseldorf verurteilte ihn 1992 wegen geheimdienstlicher Agententätigkeit zu zwölf Jahren Haft. Er kam im Oktober vorigen Jahres frei.

Verraten hatte Kuron der "kleine Großmann", wie Karl Christoph Großmann zur Unterscheidung zum letzten Chef der HVA intern bezeichnet wurde. Er war 1986 wegen angeblicher Unterschlagungen und anderer Amtsdelikte innerhalb der HVA strafversetzt worden. Im Prozeß gegen Markus Wolf, ebenfalls in Düsseldorf, räumte Großmann ein, daß er 20 000 Mark dafür bekommen habe - ein billiger Verrat.

Die Zahl der HVA-Männer, die Geheimwissen preisgaben, betrug höchstens zwei Dutzend. Die allermeisten Obristen, gegen die die Bundesanwaltschaft nach der Wende wegen geheimdienstlicher Agententätigkeit und Bestechung ermittelte, schwiegen auch dann noch, wenn sie in Beugehaft genommen wurden. Seit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom Mai 1995, wonach DDR-Bürger wegen Landesverrats nicht verurteilt werden können, sind die umfangreichen Ermittlungsakten der Bundesanwaltschaft nur noch für Historiker interessant.

Ein möglicher Interessent für HVA-Kundschafter, wie der Fall Kuron zeigt, war auch das KGB. "Eine Übergabe von Quellen an die Russen kam für uns aber nicht in Frage", behauptet Werner Großmann - sie war mittlerweile auch so gut wie unmöglich.

Einer von Großmanns Stellvertretern war im März 1990 nach Moskau gereist. Der Bruderdienst, mußte er enttäuscht feststellen, war ähnlich desorientiert und perspektivlos wie die HVA. Das KGB hatte andere Probleme als die komplizierte Übernahme von HVA-Kundschaftern.

Einzelne HVA-Mitarbeiter versuchten, auf eigene Faust ihre nun arbeitslosen Spione an die Russen zu vermitteln. Zwei Mitarbeiter von Rogallas USA-Abteilung, Lothar Ziemer und Karl-Heinz Michalek, wurden dabei erwischt und Anfang 1995 zu je 22 Monaten auf Bewährung verurteilt.

Ohne Rückhalt in Moskau waren die HVA-Getreuen auf sich allein gestellt. Die Überläufer zerstörten zudem den Nimbus von der elitären Gemeinschaft, die sich über ihre Auflösung hinaus in Treue verbunden bleibt. Am schlimmsten jedoch war, daß die Operation Reißwolf, die systematische Vernichtung aller verräterischen, erhellenden Dokumente, sich am Ende als nur bedingt erfolgreich erwies.

Zufallsfund im Kiefernwald

Als Joachim Lampe und Wolfgang Siegmund von der Karlsruher Bundesanwaltschaft zusammen mit dem Bundeskriminalamt nach dem Beitritt der DDR darangingen, die HVA aufzurollen, fanden die Ermittler zunächst HVA-Akten in anderen Stasi-Abteilungen, die mit Auslandsspionage nicht befaßt gewesen waren. Wie nebenbei fiel ihnen auch Material über Herbert Wehner und Karl Wienand in die Hände. Es lag in Erich Mielkes Panzerschrank.

Das Bundesamt für Verfassungsschutz decodierte im Oktober 1990 eine Aufstellung über "Besoldungsunterlagen" von über 90 000 hauptamtlichen MfS-Mitarbeitern, aus denen sich die Struktur des Spionage-Ministeriums erkennen ließ.

Der Ordnungssinn der MfS-Abteilung Finanzen, die penibel in ihren Reiseabrechnungen Decknamen sowie Termine und Orte von Treffen der HVA-Offiziere mit Kundschaftern registrierte, brachte die westdeutschen Ermittler weiter voran.

Noch wertvoller war ein Zufallsfund in einem atomsicheren Bunker der Nationalen Volksarmee in einem dichten Kiefernwald bei Garzau, unweit des brandenburgischen Städtchens Strausberg. Wo zu DDR-Zeiten ein Rechenzentrum der NVA rund um die Uhr gearbeitet hatte, stießen Experten des Militärischen Abschirmdienstes Ende 1990 auf mehrere Datenträger. Aber wie waren sie in die NVA-Bunker geraten?

Im Frühjahr 1990 waren zwei Mitarbeiter des Rechenzentrums nach Berlin gereist, um Hardware und vor allem die immer knappen Festplattenstapel bulgarischer Herkunft abzuholen. In einer kleineren geheimen EDV-Niederlassung der HVA bekamen sie unter anderem gebrauchte Festplatten.

Als der Kommandant des Garzauer Rechenzentrums erfuhr, woher diese Platten kamen, schien ihm die Sache zu heiß. Er ließ die Datenträger in einem extra abgeschotteten, hochgeheimen Raum innerhalb des Bunkers lagern, in dem ansonsten russische Chiffriermaschinen standen. Die Maschinen wurden kurz darauf von der sowjetischen Armee abgeholt, die Platten blieben liegen und gerieten in Vergessenheit, bis die Bundeswehr am 3. Oktober 1990 den Garzauer Atombunker übernahm.

Die Datenträger waren gelöscht und anschließend mit Milliarden von Nullen überspielt worden, aber das war nicht genug der Sorgfalt. Westdeutsche EDV-Experten konnten aus dem Restmagnetismus 290 572 Datensätze und daraus 63 046 HVA-Vorgänge rekonstruieren, aus denen sie schließlich 3167 Mitarbeiter herausfilterten. Die Daten reichten bis zum Mai 1989 und waren von der EDV-Abteilung der HVA erfaßt worden.

Ende 1992 erhielt die Bundesanwaltschaft die "Garzau-Liste". Damit ließ sich herausfinden, welche HVA-Leute welche Vorgänge mit welchen Decknamen geführt hatten.

Das Auftauchen dieser Liste bedeutete einen schweren Schlag für Großmann und die noch immer loyalen Genossen der HVA. Es kam noch schlimmer, denn auch der amerikanische Geheimdienst hatte einen Coup gelandet, "einen der größten Coups der Spionage im Kalten Krieg", wie die "Washington Post" lobte.

Unter dem Decknamen "Operation Rosewood" ("Rosenholz") hatten CIA-Männer heiße Ware aus Beständen der HVA besorgt und in ihre Zentrale nach Langley geschafft. Wie und wann? Diese Fragen behandeln die Amerikaner wie ein Staatsgeheimnis.

Sicher ist, daß die CIA Verfilmungen von Dokumenten erbeutet hat, zu denen nur ein auserwählter Kreis Zugang hatte. Großmann zerbricht sich deshalb bis heute den Kopf darüber, wer aus dem engsten Zirkel der Verräter sein könnte. Sein Stellvertreter Devaux spricht vom "Innersten Heiligtum" der HVA.

Um die "Operation Rosenholz" ranken sich allerlei Gerüchte. Von einer halben Million Dollar, die im Frühjahr 1990 geflossen sei, ist die Rede. Dafür gibt es jedoch keine Indizien. Statt dessen bietet sich eine andere Hypothese für den CIA-Coup an.

Den Mitarbeitern in dem für die Registrierung zuständigen Referat 7, das direkt der Leitung unterstand, oblag die Erfassung aller für die HVA interessanten Personen. Gegen Ende jedes Jahres wurden ihre Karteikarten auf Rollfilmen und auf Mikrofiches verfilmt.

Zusätzlich lagerten der Referatsleiter Manfred Richter und seine Leute seit Ende der siebziger Jahre die verfilmten Jahresberichte der einzelnen Abteilungen oder die verfilmten Mobilisierungsunterlagen für den Kriegsfall ein.

Diese Materialien wurden als so wichtig erachtet, daß sie nicht von der HVA-Fotostelle bearbeitet wurden, sondern mit einer im Referat 7 installierten Kamera. Die Rollfilme wurden in Stahlbehälter verpackt, die man in Kuriertaschen verstaute, und diese wiederum wurden in Stahlschränke eingeschlossen.

"Im Dezember 1989 kam mein Vorgesetzter zu mir", berichtet ein Stabsoffizier. "Er wies mich an, die Verfilmungen von dem Material des Referats 7 nach Karlshorst auszulagern." Der HVA-Leitung war die Lage in der DDR angesichts der Demonstrationen gegen die Stasi zu unsicher geworden.

Der Stabsoffizier bekam im Referat 7 eine schwarze Kuriertasche in die Hand gedrückt und fuhr mit seinem Dienstwagen, Marke Lada, zur Niederlassung des Bruderdienstes nach Karlshorst, der größten KGB-Residentur außerhalb der Sowjetunion. Dort empfing ihn bereits an der Schranke der ihm wohlbekannte Kollege Sascha Prinzipalow.

Prinzipalow war Anfang 1977 in Oslo als sowjetischer Diplomat wegen Spionageverdachts verhaftet worden und Mitte der achtziger Jahre als Verbindungsoffizier zwischen KGB und HVA nach Berlin gekommen.

Zwar behaupten Großmann und andere HVA-Männer beständig: "Wir haben nichts den Russen übergeben." Der Stabsoffizier aber erinnert sich: "Ich drückte Sascha die einem Pilotenkoffer ähnelnde Tasche in die Hand." Er mutmaßt, daß eine Kuriermaschine das Überbringsel nach Moskau flog.

Gegen Ende des Jahres 1989 herrschte allerdings auch in der KGB-Residentur in Karlshorst Chaos. "Anfang Dezember", schreibt Iwan Kusmin, damals Vizechef des KGB in Karlshorst, in seinen Memoiren, "kam eine Kommission der Archiv-Registrierabteilung des KGB nach Berlin." Die Genossen hätten verlangt, daß das gesamte operative Material innerhalb einer Woche nach Moskau gebracht und die gesamten restlichen Papiere vernichtet würden. "Das geschah", so Kusmin, "auf einem unserer Truppenübungsplätze mit Hilfe eines Flammenwerfers."

Was aber geschah mit der schwarzen Kuriertasche und den Filmen in Karlshorst? Sascha Prinzipalow kann keine Auskunft mehr geben, er starb im vergangenen Jahr in Moskau. Es gibt allerdings starke Indizien dafür, daß es sich bei dem Material, das heute im CIA-Hauptquartier lagert, um Kopien dieser Filme handelt, die entweder noch in Ost-Berlin oder später in Moskau hergestellt wurden:

* Die Amerikaner verfügen über Verfilmungen von Karteikarten, EDV-Ausdrucken, Jahresberichten und einer "E-Fall-Kartei" für den Kriegsfall, die konzentriert einzig und allein im Referat 7 lagerten.

* Die Originale aller Dokumente, die die CIA hat, sowie weitere Verfilmungen von ihnen wurden, so bestätigen es glaubwürdige Zeugen, vernichtet.

* Amerikanische CIA-Quellen erklären, daß die Agenten, die die "Rosenholz"-Materialien beschafften, nicht für Deutschland zuständig waren, sondern für die Sowjetunion.

Was und wieviel die Amerikaner wirklich haben, weiß nicht einmal das Bundesamt für Verfassungsschutz genau. Die Kölner bekommen lediglich Einsicht in solche Unterlagen, die Bundesbürger betreffen. Sie können nicht ausschließen, daß die CIA

* Aus einem Karikaturenband, den Markus Wolf von HVA-Mitarbeitern zum 60. Geburtstag am 19. Januar 1983 geschenkt bekam.

mittlerweile Kundschafter der HVA, die einst in der Bundesrepublik spioniert hatten, übernommen hat.

Die Amerikaner rücken das Originalmaterial nicht heraus. Seine Beschaffer, so die Begründung, würden gefährdet.

Mission mißglückt

Den HVA-Auflösern ist ihre letzte Mission doch noch mißglückt. Sie konnten mit der Operation Reißwolf zwar Spuren verwischen, aber am Ende nicht alle. Die Top-Agenten der HVA in der Bundesrepublik seien aufgeflogen, behauptet Abwickler Fischer: "Ich kenne keine wichtige Quelle, die Glück gehabt hätte."

Seit Anfang 1991 wurde gegen 3151 Westdeutsche wegen des Verdachts der Zusammenarbeit mit der HVA ermittelt; es wurden allerdings nur 79 Anklagen erhoben. 51 HVA-Spione bekamen Haftstrafen von mehr als zwei Jahren. Der einzige, der noch immer sitzt, auch wenn er inzwischen als Freigänger für die PDS-Fraktion arbeitet, ist Rainer Rupp, der unter dem Decknamen "Topas" die Nato in Brüssel ausforschte.

Die Auflösung der HVA fällt zusammen mit dem Ende der Abhängigkeit der beiden deutschen Staaten von ihren jeweiligen Sieger- und Schutzmächten. Von der Sowjetunion aufgebaut, landete das Geheimwissen der HVA wieder bei den Russen. Von dort wanderte es wohl nach Washington.

Die westdeutschen Geheimdienste standen bis jetzt mit leeren Händen da und ahnten nicht einmal, daß sie seit 1990 auf einem wahren Schatz der HVA saßen. Mit der Wiederentdeckung der internen Datenbank auf den Magnetbändern ist die Heldenlegende von Markus Wolf und seiner HVA unwiderruflich zerstört.

(Quelle: Spiegel 18. Januar 1999, Michael Sontheimer)
 
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